Die Vikare meiner Kindheit, Kleid, Haut und Schleier von Tante Ottilia
Meine Kindheitserinnerungen sind erfüllt mit dem Geruch von schwarzen Nonnenkleidern, dem wischenden Geräusch, das sie machten, mit dem Anblick einer Kopfbewegung, die durch den Schleier etwas seltsam Anmutiges bekommt. Keinen Schleier im wörtlichen Sinn trug meine Tante, die Nonne, Schwester Ottilia, sondern eine Art Panzer am Kopf aus gestärkten kartonharten Textilien, die in die blasse Haut einschnitten. Sie hatte eine ebenso blasse Brille, die kaum zu sehen war, schmutzigweisses Bakelit oder was es war, vor schmutzigweisser Haut. Nur manchmal funkelten die Brillengläser, wenn sie den Kopf drehte. Dann wehte auch das schwarze Tuch, das bis zu den Schulterblättern fiel hinter der Kopfbewegung her und wenn sie ging, folgte der Rock, der üppig schien in seinem klösterlichen Schwarz, und darunter die Schuhe, die manchmal aufglänzten; altgeputztes saubergewetztes schwarzes Leder, genauso altgeputzt und saubergewetzt in unzähligen Waschungen mit Kernseife wie das blasse Kinn, die blassen Hände, die rauh vor spröder trockener Sauberkeit und runzlig waren.
Ich steh, nach vorne geneigt, so weit nach vorn, dass ich fallen würde, wären sie plötzlich weg, die schwarzen Röcke meiner Tante. Und ich berge mein Gesicht in diesem dunklen Tuch. Ich sehe meinen Hinterkopf, weisslicher Scheitel zwischen straff gestrecktem Haar, das in Zöpfen mündet, helle weiche Kniekehlen über farbigen Kniestrümpfen. Der schwarze Stoff, sein Geruch, hatte zu tun mit den Angst und Schauergeschichten, denen man nicht entfliehen konnte und nicht entfliehen wollte. Die Geschichten auf den Rückseiten der glatten Heiligenbildchen, die man zwischen die Seiten der Gebetbücher steckte: Maria Goretti, die lieber starb als ihre Unschuld zu verlieren. Die Geschichten von Folterungen und Exekutionen, die die Vikare im Religions-Unterricht erzählten. Die Folterung Christi und seine Hinrichtung wären schon genug gewesen, um dieses Gefühl in mir auszulösen, das mir im Rückblick noch Angst und Scham einflösst- ein wohlig schreckliches Suhlen, wie es Kinder von heute wahrscheinlich vor Gewaltvideos tun. Wenn dann aber der Vikar, hager war der eine, mit stechenden Augen begabt war er und riss das Maul weit auf. Der andere war fett und schwitzte jeweils, so dass man seinen Körper roch, wenn er in seiner speckigen Soutane an den Bänken vorbeiging, auf denen wir sassen . Wenn also der Vikar – ausschmückend und genüsslich taten es beide – erzählte, wie Heilige in siedendes Öl getaucht wurden, wie man ihnen die Fingernägel ausriss, wie sie nackt niederknien und auf die Enthauptung warten mussten, wie man ihnen bei lebendigem Leibe die Haut abzog – und das alles nur, weil sie dem Christentum nicht abschworen; so kam zu dieser Neugierde, dieser Lust am Gruseln noch eine innerliches Kopfschütteln hinzu. Ich begriff wirklich nicht, warum diese Menschen so dumm gewesen waren und nicht, um ihre Haut zu retten, gelogen, zum Schein zu den fremden Göttern gebetet hatten. Ich schämte mich gleichzeitig für meine Kleinmütigkeit, für mein mangelndes Heldentum. Aber irgendwo ganz tief drinnen muss in mir eine Gewissheit gewesen sein, dass diese Geschichten irgendwie doch dazu bestimmt waren, uns zu gängeln. Dass die Wahrheit, die die Erzähler für sich so ohne Skrupel gepachtet zu haben schienen, vielleicht doch eine trügerische sei. Dass es sich im Grunde nicht lohnte, für irgendwelchen Glauben das Leben hinzugeben. Ich muss gespürt haben, dass Religion Macht hatte, Macht , die unsere Angst benutzte, um uns gefügig zu machen. Macht durch die Verheissung der Strafe, der ewigen Verdammnis, wenn wir nicht auf einem tugendhaften Weg wandelten. Und Tugend, das war Reinheit, so rein wie die weissen schlanken Birken mit den goldenen Blättern auf dem Bild, das der Vikar ums zeigte. Wenn man diese Reinheit nicht bewahrte, die Sünde nicht mied, sogar dafür zu sterben bereit war, würde man in der Hölle schmoren, da wo die Teufel mit Schwänzen und Zähnen, das Feuer anfachten. Mein Onkel der Staatsanwalt, hatte Bücher mit glänzenden Bildern darin: Da standen sie die Satane, mit glänzenden dunklen Muskeln und zwinkernden Augen am Hintern und neben ihnen stürzten bleiche nackte Menschlein ins Verderben hinunter.
Das war fast alles, was ich hörte über die grossen Fragen nach „woher und wohin“, nach „wer und was bin ich“. Vielleicht hab ich gar nicht wirklich an einen Gott geglaubt, aber ich wusste nur nichts anderes. Nichts von dem, was seit der Aufklärung im abendländischen Denken über die Welt und das Leben gesagt und geschrieben worden war. Meine Eltern waren zwar recht belesen. Mein Vater erklärte uns Natur und Geschichte, aber die Kirche hatte doch meine Mutter, die katholisch erzogen worden war und unterschrieben hatte, dies mit uns ebenfalls zu tun – noch einigermassen im Griff .
Sie war zwar, wie sie sagte, eine Zweiflerin, aber bis fast ins hohe Alter muss die Angst vor ewiger Verdammnis noch in ihr weitergewirkt haben. Ich war wahrscheinlich schon als Kind einen Schritt weiter. Ob das Glaube war, was ich empfand? Jedenfalls erinnere ich mich, dass ich in Not, wenn ich Angst hatte oder mir etwas wünschte, „liebeliebe Gott“ herunterleierte, also jemanden anrief. Dabei stellte ich mir einen Punkt irgendwo weit weg, hoch oben vor ; ein Punkt der wurde, kam man in Gedanken näher, kaum deutlicher, hatte irgendwelche undefinierten menschlich-männlichen Konturen. Kein Gesicht wie in den Kinderbibeln und Bilderbüchern, aber ein Auge, ein riesiges in der Mitte eines Kopfes.
War es eine Instanz für mich, eine Macht? War es eine Zuflucht? Ein Bezugspunkt sicherlich, aber eher ein Unsicherheitsfaktor, in dem Sinne, dass mir schon sehr früh all das nicht ganz einleuchtete: Diese Aktivität Gottes, von der sie redeten, dieses Allwissen, das man ihm zuschrieb, dieses Ausspähen jeglicher Befindlichkeit, jeder Tat. Dieses Tragen – „in Gottes Hand“ jedes einzelnen Menschen. Solche Vorstellungen schienen mir zwar verführerisch, aber unglaubhaft, nicht logisch. Ich stellte Fragen im Unterricht, ich versuchte später, indem ich entsprechende Kurse und Vorlesungen besuchte, die historischen Hintergründe der Christusgeschichte kennen und verstehen zu lernen. Meine Abneigung gegen alles Religiöse – war verknüpft mit dem puren Gegenteil, einer Art Neugierde und Sympathie dafür, die Neugierde wie die Sucht nach etwas Unanständigem. In dem Sinne habe ich mit Nonnen und Mönchen verkehrt und meine Neugierde gestillt. Ich habe eine Reportage über ein geschlossenes Kloster in Solothurn geschrieben und mich fast mit dieser Lebensweise identifiziert. Der Alltag war faszinierend, die Gebete und Gesänge, diese ruhige Ordnung, die einem durch den Tag trug. Die Stille mitten in der Stadt, in der das Kloster mit seinen durch eine Mauer geschützten Feldern lag, die gemeinsamen Mahlzeiten, das gemeinsame Arbeiten. Er, an den sie glaubten, erschien mir ganz in den Hintergrund verbannt.. Manchmal nur irritierte mich das allzu süsses Lächeln, wenn sie von ihm sprachen. Aber es war weniger kitschig süss, als das des jungen Ehepaares einer evangelischen Sekte, mit denen ich später in Kontakt kam. Die Schwestern hatten wenigstens Humor und liessen es zu, dass man ein Foto in der Zeitschrift publizierte, auf dem sie im Garten Herrenunterhosen an die Wäscheleine hängten: Die Unterhosen der katholischen Priester aus der Stadt. Auch unter Ehelosen war die Rollenverteilung klar. Und die Bienenmutter des Klosters liess sich stolz mit einem Stumpen im Mund ablichten, wenn sie beim Bienenstock hantierte. Ich empfand eine ungebrochene Sympathie für ihre Lebensweise. Die Gemeinschaft, die Genügsamkeit, auch eine Art Demokratie war hier verwirklicht. Die Interpretation des „Gehorsams“ als Gehorsam gegenüber der Gemeinschaft, wie sie bei den Kapuzinern und den Franziskanerinnen geübt wird, leuchtete mir ein. Aber brauchte man, so fragten wir uns – die junge Fotografin, die mit mir zusammenarbeitete – einen Gott, einen halb nackten am Kreuz hängenden Menschen, und all diese Geschichten aus meiner Kindheit, die ich eigentlich schon vergessen hatte. Ohne eine männlichen Gott würde es auch gehen. Und da, ja wie fast überall in Europa auch dieses Kloster mit den wunderbaren Gebäuden überaltert war, entwarfen wir Umsturzpläne, angesichts dieses idyllischen Areals. Ein riesiges Kornfeld, abgeschirmt durch Mauern gegen die Stadt, verwunschene mittelalterliche Gewölbe mit Dachbalken und verlorenen Fenstern. Der Hierarchie des Vatikans entfremden könnte man das alles, fantasierten wir. Junge Novizinnen müssten eintreten und das Keuschheitsgelübde nicht einhalten, sehr schnell Kinder bekommen, illegitime Kinder. Die Väter, junge Männer, würden dann allmählich nachrücken, die Zölibatsdiskussion auf diese Weise wieder anregen. Könnte man eine schwangere Nonne, die nichts besass, im zwanzigsten Jahrhundert aus dem Kloster hinauswerfen, ohne dass das ungeheures Aufsehen erregen würde? Allmählich würde die Ordensgemeinschaft so unterwandert werden, die wunderbaren Besitztümer an eine Gemeinschaft gehen, die sich fortpflanzt. Eine Kontinuität wäre gewährleistet, eine Kontinuität in der Lebensweise, der Beschaulichkeit, der Autonomie und Unabhängigkeit von der Marktwirtschaft. Zugleich wäre das eine Möglichkeit, die Hierarchie der männerbestimmten katholischen Kirche allmählich abzubauen, ohne die Qualitäten, die das Projekt Kloster auf wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Gebiet unzweifelhaft hat, ganz zu verlieren.
Inzwischen hatte sich mein Misstrauen, meine Antipathie gegenüber allem Religiösem noch verstärkt. Die Faszination war einer einem Misstrauen, einem Unverständnis gewichen für die Art, wie Menschen menschengemachte Geschichten zum Zentrum des Lebens machen, oder besser, wie sie etwas anhängen, das für mich nichts ist als Phantasie, als ein Konstrukt, von anderen hergestellt.
Ich weiss, diese Abneigung ist nicht nur rational, es hat etwas zutiefst emotionales dabei, es ist wie eine Wende in meinem Innern, vielleicht seit dem Tod meiner Mutter, dieser Auseinandersetzung mit dem Nichts, dem Verschwinden. Mit den Bedingungen des Lebens als Zufall und unwahrscheinlicher seltsamer Fügung, die niemand gesteuert hat, oder wenigstens nicht dieser Gott, der ein recht primitives Gedankenkonstrukt darstellt. Vielleicht hat mich diese Beruhigung, die ich empfinde, genarrt, vielleicht ist der Hass, dem mir nun religiöse Menschen, – nein nicht Hass, eher Unverständnis – einflössen, die Kehrseite einer morbiden Faszination, die mich als Kind gefesselt hat. Heisst das, dass ich nun befreit bin, befreit von den Erinnerungen, befreit von einer trügerischen Hoffnung, befreit auch von einer Bindung an ein Moralsystem, dem ich mit meiner Vernunft nie ganz verfallen bin, das ich in meinen Gedanken kritisieren konnte und das mich doch fesselte und am Leben hinderte, bis in meine späten Jahre hinein?
Und ich glaubte doch, als ich diesen Text schrieb, diese Befreiung von Göttern aller Art, würde auf eine Zukunft hinweisen, die langsam die meisten Kulturen verändern könnte. Diese falsche Hoffnung! Die Götter, die Gewalt, die Unterdrückung ist wieder da. Wiederholt sich wie immer in der Weltgeschichte. . Die Götter sind andere als der christliche, in dessen Namen man Ketzer verbrannte. Getötet, ausgerottet, gefoltert werden die Ungläubigen nun im grossen Stil. Und ihr Hass ruft andern Hass hervor, der sich langsam weiter ausbreitet.
Die Röcke meiner Tante Ottilia waren schwarz wie die Gewänder und Schleier der unterdrückten Frauen aus dem Orient, zwischen denen nur zwei dunkle Augen in die Welt hinaus blicken.
…, das Zebra, die Wespe …. und die Krähe mit einer Kröte im Schnabel
Schrecklich schrie er, der Frosch, zappelte mit den Vorderbeinen, seine Hinterbeine schon im Rachen der Ringelnatter. Im Donaudelta in einem verwunschenen Teil; mit kleinen Booten fuhren wir durch die stille romantische Schilflandschaft. Die Pelikane, die Silberreiher, die glitzernden Fische. Daran erinnere ich mich nur so pauschal, ein verblasstes Bilderbuch. Schließlich ist das fast zwanzig Jahre her. Aber den Frosch, sein Schreien, das werde ich nie vergessen. Ein Laubfrosch und eine Ringelnatter. Für beide, so selten geworden in Mitteleuropa, spende ich, um sie zu schützen.
Auch unvergesslich sicher für mich, das Bild von der Exkursion im letzten November in Tansania: Der tote Zebrahengst gleich neben dem Jeep und neben ihm eine erschöpfte
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Löwin, und auf der andern Seite 10 Meter weiter im Schatten unter dem Baum, zwei weitere Löwinnen. Alle drei hechelten in der Hitze, bewegten sich nicht. Die Jagd war offenbar hart und mühsam gewesen, vielleicht eine von vielen vergeblichen Versuchen, Nahrung für den Nachwuchs zu beschaffen, doch endlich erfolgreich. Und jetzt mussten sie das Fleisch noch gegen all die andern Fleischdiebe verteidigen. Ich hatte Mitleid – eigentlich nicht mit dem toten Zebrahengst, sondern mit den drei erschöpften Löwinnen.
Heute morgen die zappelnde Wespe im Spinnennetz. Immer wieder meine Bewunderung für die Kunst der Spinnen, die die glitzernden Netze frühmorgens emsig weben. Ein Kunstwerk, aber auch eine Falle für die Wildbienen, die immer wieder von den Bienenhotels wegfliegen um Pollen für ihren Nachwuchs zu holen. Beide sind für mich wunderbare Wesen. Seit ich weiss, wie kostbar der Faden ist, mit dem die Spinne arbeitet. Und wie viel das kleine Hirn der Bienen arbeitet, um Futter zu finden, sich zu orientieren, die ganze komplizierte Arbeit des Nestbaus für den Nachwuchs zu vollbringen – jedes Weibchen bei den Wildbienen zieht ja allein seine Jungen auf -. Ich zittere um die Bienen, aber zerstöre die Spinnennetze nicht. Beide sind mir wichtig. Sie gehören zum Reichtum der Natur.
Aber das Bild vergesse ich nicht, und meine Wut, als die Krähe, die eine Kröte aus ihrem Versteck geklaubt hatte, mit ihr auf das Dach des Nachbarhauses flog. Etliche Jahre ist das her. Aber ihre verzweifelten Versuche zu fliehen, ihr Gezappel, als die Krähe sie Stück für Stück bei lebendigem Leib verzehrte, erinnert mich noch immer an meinen hilflosen Zorn. Eine meiner Erdkröten, die erst seit wenigen Jahren in meinem Gartenteich Hochzeit feierten! Auch dieses Jahr habe ich auf sie gewartet, die Hochzeitsgäste. Wenige waren es, ein einziges Weibchen und etliche Männchen, die sie dauernd belästigten. Gab das dennoch Nachwuchs? Doch vor ein paar Tagen habe ich befriedigt die winzigen schwarzen Kaulquappen bemerkt, die sich jetzt im Wasser tummeln. Er geht doch weiter, dieser Zirkus von Leben und Tod, dieser Kampf um Nahrung und Fortpflanzung. Bei allen Lebewesen, bei Pflanzen, Tieren und Menschen. Keine Idylle gibt es da, erst recht nicht bei der einzigen Spezies, dem Homo Sapiens, der schon früh mehr wollte als nur das: Nahrung ja, aber auch Macht, Luxus, Besitz. Und damit Kriege anzettelte, Kulturen schuf, die neue Schönheit auf die Welt brachten. Und neue Zerstörung, und der die Gegensätze von Vernichtung und Leben noch verschärft, die überall herrschen.
„ Ich lebe, ich sehe.“ (Titel einer Ausstellung über russische Kunst im Kunstmuseum Bern)
In der Pfütze spiegelt sich ein blasser Himmel. Ein gelber Stummel schwimmt vor dem grauen Randstein. Winziges Grün spriesst zwischen Kieseln.
Ich lebe, ich sehe.
Ein graublasses Wolkengebilde hinter Blättern, die sich leise bewegen, das sanfte Beugen der dünnen Zweige an denen sie hängen.
Ich lebe, ich sehe.
Dieser Blick auf die Welt.
Jetzt, in den Jahren, nachdem ich aufgetaucht bin aus dem Nichts, in dem wir alle vorher waren. bevor ich im Nichts verschwinde, in dem die Toten sind
Dieser Blick jetzt auf die Welt.
Die Zwiebeln, an denen die trockenen Hüllen sich lösen.
Die Krümmung des Rückgrats einer Forelle, die wir eben gegessen haben.
Und das Spargelgrün und das leuchtende Orange der Karotten, und die Art, wie das helle Gelb beim Kartoffelschälen glänzend erscheint. Und der Wasserglanz auf Salatblättern und die Narbung der Orangenschalen und die Art, wie das gelbe Fruchtfleisch aus der ausgedrückten Zitrone hängt.
Ich lebe, ich sehe
Am Morgen die Täler und Gipfel zerknüllter Kissen. Die Linie einer Wange, die leise bebt im Rhythmus des Schlafes.
Und die winzigen Härchen auf einer nackten Schulter und der Widerschein des Fensterflügels auf dem Teppichrot.
Und die kleinen Pfützen, die nasse Füsse auf Badezimmerkacheln zurücklassen und die blassblaue Farbe der Aufschrift einer Zahnpastatube. Und der Rasierpinsel, dessen Haare sich im Spiegel verdoppeln. Und wie der Wasserwirbel im Abfluss der Badewanne die Gedanken mit sich reisst, die alten Ängste verschlingt.
Und das Muster von Knitterfalten am Rock einer Frau, die aufsteht, um aus dem Bus zu steigen. Und die knallrote Socke zwischen Schuh und Hosenbein des Mannes, der vor mir sitzt. Und das Ohr dieses Fremden ganz nah vor mir rosig und weich, mit atemberaubender Kühnheit der Muschelwindungen
Ich lebe, ich sehe, dieser Blick auf die Welt.
Diese Linien, die die Wellen auf dem Wasser immer neu erfinden, dieses Zittern eines weggeworfenen Papiers, bevor der Wind es ganz erfasst, der sein Rot und sein Blau und eine schwarze Schrift aufleuchten lässt, während es in einer filigranen Wolke von Staub über den Asphalt tanzt.
Die Muster der Randsteine am Bürgersteig, die Ritzen dazwischen, auf die das Kind nicht treten durfte, damit kein Unheil geschah und die Wünsche in Erfüllung gingen.
Eine glänzende Wurst von Hundekot vor dem Braun der Erde, eine zerquetschte Erdbeere, an der sich eine Schnecke gütlich tut.
Die Spuren nasser Autopneus. Das schillernde Grün von Spucke.
Ein Blatt, das auf dem Asphalt klebt, und dessen Adern die Verzweigungen des Astes wiederholen, an dem es gehangen hat.
Ich lebe, ich sehe.
Unter den Bäumen, die wie dunkle Riesenkegel stehen, watscheln die Enten hochaufgereckt, rennen die Erpel der Liebe hinterher, geht eine Schnatterwelle von Schnabel zu Schnabel, recken die bunten Hähne die Hälse und schreien.
Und da läuft die Katze geduckt über den Kies, springt aufs Mäuerchen, hebt die Pfote und leckt sich. Legt langsam den Schwanz um die Füsse.
Diese eine Katze für alle Katzen seit Tausenden von Jahren, diese eine Bewegung für alle seit dem Anfang des Lebens. Dieser Blick aus bernsteinfarbenen Augen für die Katzenblicke seit der Zeit der Pharaonen.
Mit blindem Auge liegt die Beutemaus auf der Treppe, die Lippen offen über den Nagezähnen, die Gelenke der Hinterbeine angewinkelt. Wenn man sie mit dem Besen auf die Schaufel schiebt, dann wippt ihr Kopf im Halsgelenk, als wäre noch Leben in ihr.
Die Federwolke, wenn der Greifvogel die Taube rupft. Die zuckenden Beine der Gazelle, in deren Genick der Löwe sich verbissen hat.
Die Gier der jungen Wölfe, die über die Fetzen Fleisch herfallen, die der Vater auswürgt.
Und der schreiende Frosch, der langsam zwischen den gelenkigen Kiefern der Schlange verschwindet.
Die Welt voller Hast und Hunger, Gier und Spiel.
Die Welt.
Ich lebe, ich sehe, meinen kleinen Teil der Welt.
Den Kran im Gegenlicht vor einem weissen Himmel. Masten von Segelschiffen, die im sanften Schaukeln des Wellengangs sich gegeneinander verschieben.
Gesteinsfalten an Berghängen. Die Abstufungen von Grün mit violetten Schatten auf den Feldern.
Die Schlingungen der Wurzeln eines Baumes, die Winkel und Wände von Häusern einer Gasse, und der Horizont weit draussen im Meer.
Und der Sternenhimmel über der Wüste.
Und die Städte unter mir. Und meine Hand, die sich bewegt auf dem Kunststoffbezug des Flugzeugsitzes.
Die Welt.
Ich lebe, ich sehe, in der kurzen Zeit, da die Augen aufgeschlagen sind.
Meine Augen und die Deinen in den Jahren nach dem grossen Nichts und vor dem grossen Nichts, das kommen, wird.
Diese Dunkelheit, die nicht einmal dunkel und viel mehr als dunkel ist.
Das Nichts, das mehr Nichts ist als alles Nichts, das wir uns vorstellen können.
Doch jetzt noch leben und sehen wir.
Die Kehrichtkessel schepperten, wenn mein Vater sie leer die Treppe empor trug und dabei an die steinernen Stufen schlug. Das passierte ihm aber nur ein oder zweimal pro Treppenflucht. Dazwischen hörte man seine schnellen fast fliegenden Schritte, denn in all den Jahren, bevor er Krebs bekam, an dem er dann sterben sollte, rannte oder hüpfte er schwungvoll im Rhythmus die Treppen hoch, obschon er doch ein recht beleibter schwerer Mann war.Der Kehrichtkessel wurde dann auf den roten Klinkerboden in der Küche gestellt und meine Mutter kleidete ihn mit Zeitungen aus: Drei doppelte Blätter, die sorgfältig zweimal einige Zentimeter über den Rand hinaus gefaltet wurden für die Seitenwände und ein Vierfaches Blatt, das man zum Schluss auf den Boden legte. Wenn der Kessel voll und schwer war und mein Vater, später mein Bruder oder ich, ihn hinuntertrugen, war der Zeitungsrand oft von Feuchtigkeit durchtränkt und die Ränder von Kaffee oder Oelflecken bildeten Ringmuster und Farbabstufungen.
Fleckenmuster auf dem Papier, die Kerben und Flecken auf der dunkelrot gemalten Haustüre, ein brauner Fleck unter dem Wasserhahn in unserer Badewanne. Der Fleck auf der Tapete, die beige war und dicke dunklere Streifen hatte, dort wo die Bahnen zusammengeklebt waren, gleich neben meinem Bett am Kopfende.
Der Fleck und die feinen wie hingestreuten Erhebungen des Musters waren in meinen Kinderkrankheiten die Fieberbegleiter, sie vermischten sich mit dem Rest der Träume, wenn ich morgens aufwachte von dem Lärm, den mein Vater beim Reinigen der Holzöfen in den Zimmern machte. Mit dem Tapetenmuster fingen die Wintertage an mit der dunklen Kälte in den Zimmern, und wenn ich mich abends gegen die Wand drehte, um einzuschlafen, waren sie immer noch da, wenn die Türe zum Korridor, wo das Licht brannte, noch offen stand. Ich sehe den Fleck vor mir und da ist auch die Angst, die mich nicht einschlafen liess, weil vorher, beim Nachtessen, die Lampe über dem Küchentisch geschwankt hatte. Es war Krieg und irgendwo war auch die Schweiz bombardiert worden. Ich war noch so klein, dass ich nicht weiss, ob Bomben und die schwankende Lampe etwas miteinander zu tun hatten. Der Fleck an der Tapete verdrängte auch die Erinnerung an Alpträume nicht, die meine Kindernächte heimsuchten: das brennende Haus auf dem Balkon, auf dem ich stand, bereit zu springen, in Gefahr, zu verbrennen oder abzustürzen. Die Horden mit Stiefeln, die in den Nächten unter Gebell einer Menschenstimme, deren Wörter nicht verständlich waren, durch unsere Strasse marschierten. Die Tiefseefische, die mich in den Unendlichkeiten des Ozeans verfolgten und verschlangen und die riesigen Baumstämme, die an den idyllischen Waldrändern des Bernerlands lagen, sich plötzlich regten und einen auffrassen, wenn man nichtsahnend an Mutters Hand in der Sonne spazierte.
An heissen Sommertagen seh ich mich vornübergeneigt auf der Schaukel sitzen und auf die Kiesel unter mir blicken. Wenn ich mit dem Schuh beim Hin – und Herbaumeln über sie hinwischte gab es kleine, staubige Lücken zwischen ihnen. Da und dort wuchsen ein paar Gräser, verkrüppelt und kurz, weil man sie immer niedertrat. Eine Fliege setzte sich auf einen kleinen Stein, der eine helle Ader hatte. Ich beugte mich so weit vor, dass ich fast vornüberfiel und klaubte ihn hoch. Die Innenfläche der Hand, mit der ich mich am Seil gehalten hatte, zeigte rote, gerippte leicht schmerzende Eindrücke. Ich nahm den Kiesel in den Mund und befeuchtete ihn, damit die weissen Adern glänzten und sich leuchtend vom schwarzen Grund abhoben. Über mir die Hitze, die mich im Nacken drückte. Ein Wehen von Leintüchern, die schneeweiss an den Wäscheleinen hingen. Hölzerne Stecken von der Witterung grau gegerbt, mit schrägen Spalten stützten sie und schwankten, wenn man an sie stiess.
Wir rannten zwischen den Tüchern durch, dem Schatten der andern Kinder nach, und während einer dieser Stecken schwankte und stürzte und die fliegenden Leintücher mit sich riss, erschien dahinter aus dem Nichts das Gesicht meiner Schwester, lachend mit Grübchen in den Wangen und schon drehte sie sich um und verschwand. Die Frauen, meine Mutter und die Nachbarinnen aus dem Mietshaus, schimpften, weil die Wäsche am Boden lag. Unter ihren braunen Schuhen knirschte der Kies. Sie trugen undurchsichtige, fleischfarbene Strümpfe und helle Schürzen, die über dem Hintern in grossen Maschen gebunden waren.
Der Weg vom Gartentor zum Haus war mit runden Steinen bepflastert. Die gelben kleinen Blätter der Birke klebten darauf. Und während ich auf das Moosmuster zwischen den Steinen blickte, hörte ich aus dem Küchenfenster über mir ein Klirren von Geschirr, eine Männerstimme, die anschwoll und wieder verebbte. Ich ging zum Gartenzaun und klaubte das Moos vom gemauerten Pfosten, ich zupfte kleine bittere Blätter von den Büschen und kaute sie. Ich ging dem Trottoir entlang und sah meine Füsse unter meinem Körper wie sie sich bewegten auf dem Asphalt, der dunkle Adern hatte und körnig- schwarze Flecken. Ich kniete mit den Jungen auf dem Stein und schaute den Murmeln nach, wie sie in die winzigen Vertiefungen im Rinnstein kollerten, sich noch langsam hin und her bewegten und dann zur Ruhe kamen, die „Aeugeli“ milchweiss wie Augäpfel mit bunten Einschlüssen, die durchsichtigen „Gledle“ mit den farbigen Spiralen, die im Glas wie im Wasser schwammen. Ich trug sie nach hause in meiner Schürzentasche, wo sie durch den Stoff gedämpft aneinander schlugen und nahm sie immer wieder aus dem Stoffsäcklein heraus um, ihre Glattheit zu prüfen, um mit Bedauern die winzigen Spuren auf der Oberfläche zu betrachten, die vom Gebrauch, vom Fall auf die Erde von den harten Zusammenstössen herrührten, wenn die Buben beim Spiel sie mit Kraft auf andere Murmeln schleuderten.
Ich sass hinter einem Busch, die Hosen heruntergelassen, meine nackten Knie vor meinen Augen, ein kleines braunes Mal auf der Haut, die winzigen hellen Härchen, die aus kleinen Vertiefungen wuchsen
Unter mir Blätterschatten, Erdkrümel, zwischen denen Ameisen krochen. Sie krabbelten wie verwirrt, vorwärts und rückwärts. Hinter den Büschen rief jemand, ich fürchtete mich vor den lauten Stimmen der Buben, ich stand da, mit nach innen geknickten Knien und suchte die Hosen hochzuziehen. Ich hasste die Kniestrümpfe, deren elastisches Band locker geworden war, und die ich, beim Rennen anhaltend, immer wieder hochziehen musste. Ich spürte wie beim Bücken sich mein Bauch zusammenquetschte und während ich die Schuhsenkel neu knüpfte, dachte ich an die kleinen Knöchelchen unter der Haut an meinen Fingergelenken.
Und dann trat ich aus dem Busch und die andern Kinder waren verschwunden und die Stille ruhte hinterhältig auf den hellen Flecken auf dem Weg.
Ich ging der Mauer entlang, weil da Schatten war, weil die Wärme, die über allem lag, dieser Sommer, den ich liebte, mich doch niederschlug. Ging langsam in der plötzlichen Einsamkeit bis zur Haustüre, bis jemand hinter mir losschrie, bis sie mich am Nacken packten und an den Zöpfen nach hinten rissen. Und dann waren sie über mir, ein Nachbarsjunge, dem ich ins Auge sah in die gefältelte Iris. Sah die Spuren von Schmutz an seinem Nasenflügel. Und dann war der Stoss so stark, dass ich in die dunkle Kühle hinter der Türe fiel und meine Handflächen auf den roten kalten Fliesen aufstemmte und mich hochrappelte. Schmerz und Wut im Bauch, der Geschmack von Tränen im Mund, wandte ich mich um. Bis ich an der Türe war, sah ich nur noch, wie die zwei am Gartentor um die Ecke verschwanden.
Meine Tränen verzerrten die Kerben am Handlauf, das salzige Nass rann mir in den Mund und über meine Oberlippe. Ich leckte sie weg und vergass das Weinen, weil ich versuchte, mit der Zungenspitze mein Nasenloch zu erreichen. Ich zog den Rotz hoch, hatte befriedigt das Geräusch im Ohr, das ich machte. Setzte mich hin, wartete bis das Herz nicht mehr so heftig schlug, sah auf meine Fusspitzen, zog die Schuhe aus, und bewegte die Zehen vor mir. Diese kleinen Wesen, die sich bewegten, als wären sie kleine Tiere. Mein Körper war so fremd und so nah zugleich für mich.
Ich hatte mich noch nicht daran gewöhnt,in diesem Körper zu sein. Noch immer musste ich mich auf Zehenspitzen stellen, um Lichtschalter zu erreichen, noch immer sahen die Erwachsenen über mich hinweg, wenn sie miteinander redeten, beugten sich herunter zu mir und sagten einen Namen, den sie mir gegeben hatten, den ich nicht gewählt hatte. Ich war in der Welt und immer noch war mein Spiegelbild mir fremd, diese Augen, die ich von ganz nah betrachtete, und in denen ich kleine Pünktchen sah, die ich nicht fühlte, die Sommersrprossen auf meiner Nase und meinen Armen, die ich nicht gewählt hatte.
Sie sagten, Gott hätte mich gemacht, und ich müsse dankbar sein dafür. Aber ich musterte meine runde Stirn im Spiegel und die Ohrmuscheln, die vom Kopf abstanden, weil man mir die Zöpfe so straff geflochten hatte, und in mir war ein seltsamer Groll, dass ich ich war, dass ich da war, ohne dass ich hatte wählen können.
Nachts lag ich wach und horchte auf die Atemzüge meiner Schwester. Vom Fenster her fiel blasses Licht auf den Boden. Hinter der Türe hörte man Stimmen, meine Eltern, die über Dinge redeten, von denen wir nichts wissen durften. Die Erwachsenen redeten immer über uns hinter unserem Rücken. Sie sagten uns nicht die Wahrheit über die Welt, und wie sie wirklich war. Ich ahnte, dass die Geschichten, die sie uns erzählten, nur für uns erfunden waren, dass hinter all dem etwas steckte, das sie uns vorenthielten.
Ich lag, die Nase an der Innenseite meines Arms. Meine Haut roch fremd und kühl und ich leckte sie und fand es seltsam erregend, dass ich mich an zwei Orten spürte. Die Zunge, für die die Haut das Fremde war, und die Haut an meinem Arm, die überrascht von der sich bewegenden Zunge gekitzelt wurde. Und dann bewegte ich mich und spürte die Härte meiner Knochen am Becken und an der Schulter und ich hielt mit der einen Hand das Handgelenk der andern Hand und spürte den Puls. Blut in meinem Körper, Knochen unter meiner Haut. Ein Knochengesicht unter meinen Wangen wie die Gesichter des Todes, der in einem Bildband meines Vaters Könige wegführte, blonde Prinzessinnen umarmte und mit der Sense in der Hand mit den Lebenden tanzte.
Erbarme dich in der Stunde unseres Todes murmelten meine Tanten, wenn sie den Rosenkranz beteten. Ich hatte die Wörter in diesen Litaneien lange nicht auseinander halten können. Ich hatte selbst auf schmerzenden Knien in der Kirche diese Sätze mitgemurmelt und nichts verstanden.
„In der Stunde unseres Todes, Amen“. Das ging alles in einem Atemzug und in meinem Kopf lagen diese Wörter ganz nah, wenn ich mit Neugier und Ernst meine Knochen fühlte in der Dunkelheit, wenn ich meine Wange an die feine Haut auf der Innenseite meines Arms schmiegte.
Ich dachte kein Nichtsein, aber die Verwunderung über mein Sein, über die Fremdheit dieses Körpers hatte ich noch nicht verloren.
Der Garten wäre still, wenn die Hühner nicht redeten. Wenn nicht dann und wann ein paar Ringeltauben auf meiner hohen toten Birke sässen. Dann und wann, hab ich sie schon lange nicht gesehen? Nicht gehört? Ich kann mich erinnern an sie und sind an den Baumläufer an den alten Trauerweiden, die an Wassermangel gestorben sind und dann liegen gelassen und im Garten langsam zurückgewachsen, von Efeu überwachsen, von Pilzen langsam abgebaut, von Insekten zerteilt…. woher hatten die roten Baumpilze, die da mal wuchsen ihre wunderbare Farbe? Aus den Nährstoffen, die sie aus dem sich wandelnden Holz holten. Oft flog damals ein Eichelhäher her und ich versuchte an ihren Stimmen, die Trauergrasmücken, den Zilpzalp, den Grünfink zu bestimmen und die Blaumeise, die Tannenmeise. Sind sie nicht immer noch dann und wann da? Nicht nur Elstern und Krähen, die man ja kaum beachtet, weil sie in der letzten Zeit fast die einzigen sind, die mich überraschen, wenn sie an meinem Haus vorbeischiessen im Morgengrauen?
Jetzt ist Winter schon lange ist Winter immer noch, dunkel am Morgen aber nicht kalt, nicht so kalt, wie es sein sollte. Deshalb wohl scheint mir alles so still um mein Haus. Die Krähen sitzen heute auch schweigend da. Eigentlich hab ich sie erst so richtig kennengelernt, als ich las, was sie alles können. Denken, Schlüsse ziehen, eine komplizierte soziale Organisation leben. Wie wir, fast wie wir. Wenn mich die Melancholie packt, weil ich weiss, wie viele der Vögel, der Schmetterlinge schon verschwunden sind, so tröstet mich mein tapferer Blick in die Zukunft, eine Zukunft, in der die Krähen sich ausbreiten, neue Unterarten bilden, seit dem Buch von Daniel Weiner (the beak of the finch) über die Forschungen des Biologen-Ehepaars Peter und Rosemarie Grant auf Daphne Major (Galapagos), weiss man wie schnell die Evolution vor sich gehen kann. Sie bewiesen dort, dass es nicht lange braucht, bis die Darwinfinken neue Arten bilden, je nachdem, wie die klimatischen Verhältnisse und das Nahrungsangebot sich ändert. So werden wohl, hoffe ich, die wenigen Tierarten, die die Ausrottung überleben, diese anpassungsfähigen Zivilisationsfolger, wie Ratten, Krähen, Füchse und viele Insekten wohl auch, sehr schnell wieder eine neue Vielfalt herstellen, wie schnell? Bei den Darwinfinken zeigten sich Unterarten mit neuen angepassten Schnabelformen innert einiger Jahre. Geht es wohl, wenn hochkomplexe Tiere wie grosse Raubkatzen. – Der Amur Tiger, der Schneeleopard, die am Rande der Ausrottung schon heute stehen – verschwinden (was für ein Verb, sie verschwinden ja nicht einfach, sie werden ausgerottet, ihnen wird die Lebensmöglichkeiten genommen. ) Werden sich auch da schnell neue Arten bilden, majestätische weil die Millionen Hauskatzen die Menschen überleben, gross werden, zu Jägern von neuen Antilopen und Hirschen sich entwickeln? Wie bald zeigt sich da eine neue Fauna, eine neue Flora, dauert es so kurz oder so lang wie es ging, bis aus dem Stamm der Säugetiere die Cousins von Gorillas und Schimpansen, dann die Menschenarten sich entwickelten, von denen dann der Homo Sapiens den Sieg davon trug? Warum komme ich auf solche Gedanken, tröstliche Gedanken, tröstlich die Aussicht, dass es dann, ein paar Millionen Jahre vielleicht nach meinem Tod, Krähenartige gibt, die die verlassenen ökologischen Nischen bevölkern: Und Wildhunde, die in den neu gewachsenen Wäldern ein wundersames Wildrind jagen, da wo die Menschen verschwunden sind.
Die Natur passt sich an, solche Aussagen möchte ich mir zu eigen machen. Möchte glauben, dass die Vielfalt sich immer neu entwickelt, weil sie sich anpassen, sich ändern, die Bewohner der Erde. Wenn ich lese, dass die Weissstörche, die wegen der Zerstörung von Feuchtgebieten in unserem Land kein Futter mehr fanden, sich plötzlich umgestellt haben auf die Mäusejagd – wie die Graureiher, die nie gefährdet waren, das schon länger tun, so gibt auch das mir Hoffnung. Alles wird, so versichere ich mir selber, nicht praktisch wieder bei Null anfangen müssen, wie damals, als die Saurier vernichtet wurden durch die Katastrophe des Meteoriten- Einschlags. Warum denn denke ich das überhaupt. Warum kümmert es mich denn? Eine Zukunft, die ich nie erleben werde?
Könnte es sein, weil die Elemente, aus denen ich bestehe, genau die selben sind aus denen alles andere Lebendige besteht? Alles in der Welt??
An jenem Tag flog ein Schwalbenschwanz vor mir her über die blühenden Wegwarten. Riesig schien er mir, als Kind hatte ich sie gesehen, als mein Sohn klein war, hatten wir eine Raupe auf den Blättern der Karotten im Nachbarsgarten gefunden und gefüttert. Sie verpuppte sich, ich stellte sie im Einmachglas auf den Balkon und eines Tages war sie weg. Später erst hab ich begriffen, dass ich sie als Futter für irgendeinen Vogel geliefert habe. Denn eigentlich überwintern diese Schmetterlinge als Puppen schön geschützt irgendwo unter Blättern, und wenn sie Glück haben, fliegen sie im nächsten Jahr als Falter davon. Es gibt nicht mehr viele von diesen grossen Schmetterlingen. In den geputzten Gärten hatten sie keine Chance. Im Gemüsebeet schützte man die Karotten mit Gift vor ihnen. Doch jetzt ist immer mal einer wieder da. Fliegt über die wilden Möhren, die jetzt auch an den Strassenrändern wachsen. Diese grossen schneeweissen Dolden mit der winzigen schwarzen Blüte in der Mitte. Ein Highlight, eine Dekoration? Schönheit? Ist es so, dass die Pflanze so tut, als sässe schon eine dieser winzigen schwarzen Fliegen auf ihr, süchtig nach Pollen, da um sie zu bestäuben, damit Samen später im Boden neue Pflanzen keimen lassen? Die Evolution? Eine Absicht? Die Natur, die eine List erfindet, die Natur, die vorausdenkt?
Vor zwei Tagen hielt der Bus vor meinem Garten und ein Auto hupte, und fuhr dann mit Getöse am Bus vorbei, die Rose unter den Ästen der alten Eibe war verblüht und da tanzte ein kleiner blauer Schmetterling über die Büsche und Gräser. Ein Bläuling, einer der vielen, die ich so nicht unterscheiden kann, denn ihr Flug ist so schnell und hektisch zitternd, wie haben denn schon damals die Fachleute die Schmetterlinge so genau unterschieden, die vielen Bläulinge, von denen nicht alle blau sind. Die Schmetterlingsforscher, Nabokov war einer , er hat sie, damals, als noch niemand Listen machte auf denen Symbole für gefährdete, für ausgestorbene für vom Aussterben bedrohte Schmetterlinge immer häufiger wurden, gejagt, gesammelt, in Kästen aufgespannt. Nabokov, in weisser Kleidung im hellen Morgenlicht über die Wiese laufend. Eine Idylle, ein Bild, das ich kenne, ein Stereotyp, so sehen Schmetterlingssammler aus, mit Botanisierbüchse umgehängt. Vielleicht hat Vladimir Nabokov nie so ausgesehen. Aber er wusste die Namen der Schmetterlinge, die jetzt durch meinen Garten flattern. Dunkle, die ich optisch nie fixieren kann, der Bläuling, der sich kaum setzt, wieder wegflattert, auf den ich später immer wieder warte und den ich nicht mehr sehe. Vielleicht weil ich genau dann nicht im Garten bin, wenn er sich zeigt.
„Warum bin ich nicht in allen Köpfen, nur in meinem Kopf?“, hab ich als Kind manchmal gedacht. Im Kopf all der andern Menschen, deren Blick mir Rätsel aufgab. Wenn ich mit der Katze spielte im Gras vor dem Haus, hätte ich gern gewusst, was sie dachte. Und diese Frage ist auch dann und wann wieder da, wenn mein Hund sich nach mir umsieht, den Kopf dann dreht nach einem Geräusch.
Zwei Augen hat er, zwei Ohren, wie ich. Wie all die andern. So viele, die aus zwei Augen blicken, mit zwei Ohren hören.
Die Kühe, die uns beim Wandern nachsehen, als wollten sie uns nach dem Namen fragen, dem woher und wohin.
Der Blick des Tigers hinter Gitterstäben im Zoo. Die Art, wie eine Katze schnell nach uns sieht, dann beflissen die Strasse quert, als wäre sie eine Menschenfrau, die drüben was zu tun hat.
Und das hat sie ja, sie geht ihren Geschäften nach, dem Geschäft des Lebens.
Sie haben alle was zu tun, die Amseln, die im Gras nach Würmern horchen, die Krähen, die die Nüsse auf der Strasse liegen lassen bis ein Auto sie knackt. Mit zwei Augen wie wir sehen sie in die Welt, gehen auf Füssen wie wir. Warum erschrecken wir nicht täglich vor dieser Vertrautheit und Ähnlichkeit, die zugleich unüberwindbare Ferne ist?
Da paddeln die Enten und Blässhühner eifrig im Wasser herbei, heben die Schnäbel und lassen ihr vorwurfsvolles Bettelquaken hören. Diese winzigen, mit farbigen Rändern gesäumten Entenaugen haben etwas Fremdes und zugleich Vertrautes. Ich weiss, wer sie sind, diese Entengeschöpfe und hab doch keine Ahnung, wie ihre Welt aussieht. So gern möchte ich wissen, wie sie sich fühlen im Winter auf dem See, mit den Beinen im eiskalten Wasser. Oder der Maulwurf, tief unten in seinem Bau, wenn er die Erde umwühlt wie ein Bergarbeiter. Oder die kleine Kröte mit den goldnen Augen, wie sie über die Steine des Mäuerchens in meinem Garten krabbelt auf der Suche nach einem Versteck.
Und nicht nur sie. Auch die mit den grossen Facettenaugen. Im Kopf einer Fliege zu sein, wenn sie, die Beine nach oben, nach rasendem Flug an der Decke landet. Im Kopf einer Spinne, die an ihrem unsichtbaren Faden hängt, in der Luft, einer Prachtlibelle, die im Flug stehen bleibt wie ein Helikopter, ihre Runden über dem Teich in atemraubender Geschwindigkeit fliegt.
Dieses Versteckspiel, diese Vertrautheit.
Ich seh, wie das Hinterbein eines Hundes leise vibriert, wenn er steht, schon gespannt ein wenig, weil er jetzt gleich aufspringen wird. Die Sehnen sichtbar unter dem Fell, die paar Haare, die, unbeachtet von ihm, fixiert von mir, den Boden berühren. Ich fasse der Katze an den Rücken und fühle darunter die einzelnen Wirbel, die Rippen, das Herz das klopft, die Muskeln am Hals, die sich spannen, wenn sie den Kopf bewegt. Sie sagt kein Wort zu mir, nie sagt sie was. Und wenn ich nicht aufpasse, wenn ich vergesse, dass zwischen uns diese unüberwindbare Artenschranke liegt, dann bin ich irgendwie beleidigt. Sie denkt was von mir, und ich werde nie wissen, was sie denkt.
Zwei Augen, zwei Füsse, vier Füsse, Zehen und Gelenke. Manchmal ahne ich eigentlich wie es sich anfühlt, einer dieser Vierbeiner zu sein, mit der Vorderpfote aufzutreten, die Hinterpfote nachzustellen. Ist es so, wie ich es mir denke, wenn man mit sechzig, siebzig Stundenkilometern dahinfegt, – ein Windhund, ein Gepard – und bei jedem Sprung die Hinterbeine neben den Vorderbeinen nach vorne wirft, einen Moment lang ganz in der Luft schwebt.
Ist es so, wie ich mir denke, dass man sich fühlt, wenn man über einem Schiff dahinfliegt, von Zeit zu Zeit träge ein wenig die Flügel bewegt. Warum rührt mich das, wenn ich beobachte, wie eine Möwe um sich blickt von ihrem Platz in der Luft aus, mit einer Selbstverständlichkeit als wäre sie irgend eine menschliche Person?
Sie blicken uns mit zwei Augen an, sie blicken in unsere beiden Augen. Sie schliessen Lider und öffnen sie wieder. Sie biegen ihre Glieder an den Gelenken, sie öffnen ihre Münder und verleiben sich Nahrung ein.
Wir alle, die Vierbeiner, die Zweibeiner und Zweiflügler, die mit dem warmen Blut, ja sogar die Frösche mit der schimmernden Haut, die wechselwarmen also, wir sind uns ähnlich.
Die Knochen in meinen Beinen und Armen, die Rippen, unter denen mein Herz schlägt, haben dieselbe Grundstruktur wie diejenigen irgendeines Säugetiers. Der Knochen unter Plastikfolie im Regal im Supermarkt mit den weisslichen Fetzen am Gelenk, der Rundung, dort wo er in der Gelenkpfanne sich gedreht hat. Ich gebe ihn dem Hund und er, die Hinterhand platt auf den Boden gedrückt, zerknackt ihn, kaut und schmatzt. Der Teil eines Körpers, der dem meinen gleicht.
Manchmal, wenn ich sitze und in Gedanken dem Gefühl in meinen Gliedern nachgehe, ist mir mein Skelett bewusst, weiss ich, wie die Haut über meine Wangenknochen gespannt ist, ahne ich, wie in meinem Bauch sich rotglänzend und weich die Därme, der Magen, bewegen. Wie die Höhle eines verwunschenen Raums wirken ihre Innenseiten. Beim Arzt, auf dem Bildschirm kann man sehen, wie sie pulsieren.
Schön sind sie, schön ist alles, was noch lebendig ist, sich bewegt, verletzlich alles, schnell verschwunden, zerstört, gefressen, verwest. Das Geschäft des Lebens, dem wir alle nachgehen, ist für alle dasselbe: dem Glück des Lebendigseins auf der Spur, der Angst, zur Beute zu werden, dem Grauen vor der Vernichtung.
Wir Verwandte, gewachsen auf den verschiedenen Zweigen desselben Baums des Lebens.
Diese blauschimmernden schwarzen Federn an seinem Schwanz… hat ein Gockel einen Schwanz? Federschmuck eher, wippt beim Gehen? Zur Zierde gebogen, Schmuck, Anziehung für die Hennen. Wie er ein paar schnelle Schritte hinter dem Huhn her macht, einen Augenblick sich streckt, eine kleine Drohung, wie wir, wir Menschen das auch machen, zwei Schritte und es ist klar, die da vorne flieht auch ein paar Schritte und protestiert, Entrüstung in meinen Ohren,
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Zurechtweisung, nein jetzt will ich nicht. Die Gesten, die Geräusche die sie machen. Wie sie geschäftig am Boden die Körner zusammen picken. Sie reden, ganze kleine Sätze, Satzmelodien, die ich irgendwie interpretieren könnte, Kommentare, kleine Ausrufe des Entzückens vielleicht, wenn sie daher rennen auf ihren mageren beschuppten Beinen.
Der Tier Philosoph Markus wild, ein junger Mann, so alt wie mein Sohn, Professor für theoretische Philosophie an der Universität Basel , sieht gut aus, von Berufes wegen geadelt durch ein Doktorat und den Titel, sagt was ich eigentlich schon lange denke, vielleicht, ich weiss es nicht mehr so genau, auch in einer meiner Kolumnen mal geschrieben habe. Jetzt, wenn er es sagt, wenn er schön betitelte Forschungsprogramme benennt mit Thema: Haben Tiere Geist? Können Tiere denken? Er spricht am Radio davon, dass er keinen Fisch mehr isst. Fleisch ohnehin schon lange nicht mehr, weil, so formuliere ich es jetzt, so habe ich es verstanden, er weiss, annimmt, beobachtet hat, dass Fische Strategien verfolgen können, dass sie überlegen und kommunizieren. Dass auch sie empfindsame Wesen sind. Er hat verzichtet, eine neue Genussquelle entdeckt, in einer neuen Esskultur, einer wie sie etwa in Gesellschaften wie in Indien seit jeher bestehen. Dort werden Kühe nicht getötet. Jedenfalls ist das so Sitte nach alter Tradition. Aber weil es eine gute Tat sein soll, Vögel frei zu lassen, werden sie erst gefangen, vor den Tempeln zum Freilassen verkauft, damit sich der Gläubige einen Verdienst fürs Leben nach dem Tode erringen kann.
Tiere.
Ich kann unter meinen Bekannten, vor allem wenn es Intellektuelle sind, (was sind das eigentlich für welche, die Intellektuellen. Leute die denken? Oder die alles lesen was gerade in Mode ist und sich darüber gescheit unterhalten, weil das ihrem Prestige dient? Oder sind es die, die versuchen, die Welt zu verstehen, das was sie sehen wirklich anzusehen, das was sie fühlen und fürchten und geniessen, wirklich zu erkennen, die Hintergründe, die Gründe, die ganz gewöhnlichen Dinge, die man kaum mehr beachtet zu verstehen. Die blauschimmernden schwarzen gebogenen im Wind gar wippenden, bei den Bewegungen elegant fliessenden Federn des Gockels. Mein Gockel, von dem ich erst meinte, es wäre ein Huhn, und da war er dann plötzlich, hochaufgerichtet, der Kehllappen rot, die Brust geschwellt, er übte den Hahnenschrei, der erst noch heiser klang, aber die Hormone, das Testosteron hatte ihn über Nacht verwandelt. Verhielt sich, wie seine Männlichkeit ihm gebot. Weiss er was da in ihm vor sich geht? Fühlt er Stolz, Vergnügen, Ärger? Ich schliesse aus dem, was ich sehe, an der Art, wie er sich bewegt, Schliesse darauf was sich tut, in eingeschlossen in seinem Hirn, seinem Vogelhirn. Erst jetzt weiss ich, dass man diese kleinen Hirne, auch die eines Kolibris, eines Zaunkönigs, nicht unterschätzen darf. Weil die Säugetiere, wie ich eins bin, sich so lange schon weit entfernt haben am Baum am Strauch der Evolution von den andern, den Vögeln, den Erben der Saurier, denken wir, sie dächten nichts. Aber meine Hennen gackern laut, am Teich steht ein Fuchs und trinkt, kein Glanz im Fell. Steht da am helllichten Tag. Der Feind für sie, ich verstehe das Geschrei, die Hühnerworte muss ich nicht verstehen, seit Millionen von Jahren sind wir getrennt, aber die Diktion, die Geste der Töne ist verständlich für mich, so wie ich verstehe, wenn der Hahn irgendwo zwischen dem morschen Holz der alten Baumstrunks eine Leckerei entdeckt, eine Assel, Samen vielleicht , ich verstehe es, wenn er dann die Hennen herbei ruft, ihnen berichtet von seinem Fund.
Enten und Blässhühnerpaddeln im Wasser herbei, heben die Schnäbel und lassen ihr Bettelquaken hören. Diese mit farbigen Rändern gesäumten Entenaugen haben etwas Fremdes und zugleich Vertrautes. Ich weiss, wer sie sind, und hab doch keine Ahnung, wie ihre Welt ausssieht.
Die Art, wie eine Katze den Kopf wendet und dann die Strasse quert, als wäre sie eine Menschenfrau, die drüben was zu tun hat. Sie haben alle was zu tun. Mit Augen sehen sie, gehen auf Füssen wie wir, und betreiben ernsthaft ihr Geschäft: Das Geschäft des Lebens.
Warum erschrecken wir nicht täglich vor dieser Vertrautheit und Ähnlichkeit, die zugleich unüberwindbare Ferne ist?
Ich seh, wie das Hinterbein eines Hundes leise vibriert, schon gespannt, weil er jetzt gleich aufspringen wird. Die Sehnen sichtbar unter dem Fell, die paar Haare, die, unbeachtet von ihm, den Boden berühren.
Ich fasse meiner Katze an den Rücken, fühle die Wirbel, die Rippen, das Herz, das klopft, die Muskeln am Hals, die sich spannen, wenn sie den Kopf bewegt. Sie sagt kein Wort zu mir, nie sagt sie was. Und wenn ich vergesse, dass zwischen uns diese unüberwindbare Artenschranke liegt, dann bin ich irgendwie beleidigt. Sie denkt was von mir und ich werde nie wissen was sie denkt.
Zwei Augen, zwei Füsse, vier Füsse, Zehen und Gelenke.
Ich ahne, wie es sich anfühlt, einer dieser Vierbeiner zu sein. Mit der Vorderpfote aufzutreten, die Hinterpfote nachzustellen.
Und wie es ist, wenn man mit siebzig Stundenkilometern dahinfegt - ein Windhund, ein Gepard - die Hinterbeine neben den Vorderbeinen nach vorne wirft, einen Moment ganz in der Luft schwebt?
Und wie es ist, wenn man mit ausgebreiteten Flügelarmen über einem Schiff dahin segelt? Träge die Federfinger bewegt, den Kopfnach da, nach dort dreht.
Die Knochen in unseren Beinen, die Rippen, unter denen mein Herz schlägt, haben dieselbe Grundstruktur wie diejenigen anderer Tiere.
Ich kaufe den Knochen:Unter Plastikfolie mit den weisslichen Fetzen am Gelenk, der Rundung, dort, wo er in der Gelenkpfanne sich gedreht hat.
Meine Hündin setzt sich hin, die Hinterhand platt auf den Boden gedrückt.
Zerknackt ihn, kaut und schmatzt.
Diesen Teil eines Körpers, der dem meinen gleicht.
Dem meines Vaters.
Sein Grab ist aufgehoben. Ein paar Knochen, zwischen Erde gebettet, vielleicht ein Fingerknöchelchen. Der Kopf mit den Augenhöhlen gekippt und von den Halswirbeln getrennt, verkrustet von der nassen Erde.
Ich sitze und gehe dem Gefühl in meinen Gliedern nach. Ich weiss, wie die Haut über meine Wangenknochen gespannt ist, ahne, wie in meinem Bauch sich rotglänzend und weich die Därme bewegen.
Die kleinen Zotten des Darms fahren vorbei; die Öffnung zum Magen schliesst sich und tut sich wieder auf. Helle Flüssigkeit gurgelt an der Linse des Apparats vorbei.Der Arzt schweigt und drückt ab. Das Bild erstarrt, geknipst für die weitere Diagnose.
Körperinneres. Eingeweide: Wenn die Jäger eine erlegte Gemse, einen Hirsch ausweiden, wenn der Störmetzger die entborstete Sau aufschneidet, quillt dieses Innereheraus. Bläulichweiss wie Perlmutt. Alle Nuancen von strahlendem Rot.
Damals, in den Bergen, als der Störmetzger kam. Kenne ich deshalb den Geruch der dampfenden Eingeweide. Das Innere dieser Sau, die daher watschelte, deren rosa Ohren über den Augen wippten, die bewegliche Schnauze sich nach Gerüchen drehte, der Kopf sich hob, um nach mir zu sehen.
Und eines dieser schlanken, dunklen Schweine, die sichim Herbst unter den tausendjährigen Eichen in der Extremadura an den Eicheln sattfressen. Die Sau lag auf einem Tisch in einem kleinen Vorgarten. Entspannt, wie schläfrig. Zwei junge Männer hielten sie an den Beinen, der dritte stach mit einem riesigen Messer in ihren Hals. Die Beine zuckten, die Männer hielten sie, besorgt, fast liebevoll, wie man einen Patienten hält, bis alles vorüber war, die Schmerzen vorbei. Das Töten hatte nichts Schreckliches. Der seltsame Geruch aus den dampfenden Eingeweiden nur, den ich schon kannte,liess mich ein wenig den Atem anhalten.
Jetzt zögere ich doch, einen Satz anzufügen, den ich in meinem Kopf schon geformt habe. Er ist ganz einfach, dieser kleine Fragesatz:
Ob es ganz ähnlich riecht, genauso dampft, wenn man die Eingeweide eines geschlachteten Menschen aus der Bauchhöhle räumt: Das Herz eines geopferten Indios. Weshalb denn gleich dieses Bild von weit weg aus einer andern Kultur, aus einer weg gelegten Vergangenheit.
Aber hätte ich gewagt, einen andern anzufügen?
Einen, der die Grenzüberschreitung akzentuiert, statt sie zu mildern:
„Meine eigenen Eingeweide, die meines Sohnes, die der Leserin/des Lesers würden genau so dampfen, genau so riechen“.
Es ist mir, als ich hätte einen Schritt in einen Abgrund getan. Dabei sind es nur Worte. Ich habe ein Tabu, das auch in meinem Kopf sitzt, verletzt. Und weigere ich mich, das zu tun, was ich jetzt am liebsten tun würde: Mit der Maus die Zeilen da oben anstreichen und auf die "delete" Taste drücken. Ich tue es nicht. Warum? Weil ich auch hier zu ende denken möchte. Alles aussprechen wenigstens. Aber sind Zeichen auf dem Bildschirm, sind Worte, sind die Bilder im Kopf, die sie auslösen können, keine Handlung?
Ich konnte meine Katze, als sie überfahren auf der Strasse lag, nicht aufheben und in den Abfallsack stecken. Die Gehirnschale war aufgeknackt, Hirnmasse und Blut war herausgespritzt. Obschon ich so oft schon Muskelfleisch von Kühen und Rindern, deren bewimperter dunkelbrauner Blickmich bezaubert, mit scharfem Messer schneide, bevor ich es brate, konnte ich die Katze nicht berühren. Als ich das Meerschweinchen meines Sohnes, in seiner grünen Plastikkiste auf dem Balkon vergessen hatte, - es war Oktober, und in der Nacht fror es zum ersten mal, und auch das Tier war hart gefroren- , konnte ich es nicht anfassen. Ich kann Schlangen anfassen, ich rette Blindschleichen im Garten vor der Katze, nehme sie ihr aus dem Maul und trage sie ins Gebüsch. ich fange Spinnen mit der Hand und Regenwürmer, ich sammle Nacktschnecken mit blossen Händen ein. Aber als eine plattgedrückte Maus, die sich wohl schwerverletzt vor meiner Katze geflüchtet hatte, unter dem Teppich hervorkam, schon getrocknet und geruchlos, musste ich allen Mut zusammennehmen, um sie mit Wischer und Schaufel wegzuschaffen.
Das Unbewegliche, das Tote, ist es das, was mich schreckt. Wie die Augen der Forellen, die blind werden, wenn ich sie in Butter brate. Geronnene Fischaugen als Augen des Todes?
Die Leiche meiner Mutter, die Leichen meiner Tanten unter Glas - von Rosen umgeben im Guckfenster der Särge - die abgemagerte unkenntliche Leiche meines Vaters auf seinem Krankenbett - sie alle sehe ich noch vor mir, ohne ein Gefühl des Schreckens dabei zu empfinden. Doch ich hab sie nicht angerührt und sie hatten die Augen zu.
Ich bin von den Augen der Lebendigen ausgegangen und beim Tod gelandet. Beim Fleisch, beim Darm, bei den Knochen, die wir gemeinsam haben. Bei den Bewegungen, bei der Art, wie alles pulsiert in uns. Wir alle, die Vierbeiner, die Zweibeiner und Zweiflügler, die mit dem warmen Blut, ja sogar die Frösche mit der schimmernden Haut, wir sind uns ähnlich. Wir und sie.
Sie blicken uns mit zwei Augen an. Sie schliessen Lider und öffnen sie wieder. Sie biegen ihre Glieder an den Gelenken, sie verleiben sich Nahrung ein. Offene selbstorganisierte Systeme sind wir. Alle stabil und von wunderbarer Kompliziertheit. Alle verwundbar, durch einen Schuss, einen Schlag ganz plötzlich zum Stillstand zu bringen. Oder ganz langsam: Die Gelenke, die sich in ihren Pfannen allmählich abnutzen, die Rücken, die immer ein wenig steifer werden. Ein Mechanismus, der im Hirn erlahmt, eine Zelle, die plötzlich wuchert. In mir, in meiner Katze, die jetzt jedesmal besorgt mit den Augen die Höhe abmisst, die sie mit einem Sprung auf meinenSchoss zu überwinden hat.
Weiche, offene blubbernde, sich windende rennende Systeme. Wir sind wie sie und sie sind wie wir. Vergänglich und schön und jetzt, in diesem Augenblick, noch da.